alle Welt redet zurzeit vom „New Normal“. Doch während sich die Diskussion in Deutschland darum dreht, ob man noch mit Maske einkaufen sollte und in Schulen weiterhin Abstandsregeln gelten, ist der Alltag in anderen Ländern noch weit entfernt von dem uns bekannten Normal: Christine Wollowski berichtet von der sozialen Isolation in der brasilianischen Provinz, in Kalifornien beobachtet Kerstin Zilm eine Renaissance der Roadtrips auf der Suche nach etwas Corona-Freiheit, und in Kenia bleiben die Schulen noch bis 2021 geschlossen. Davon und mehr erzählen wir in unserem aktuellen Fokus.
Weit entfernt von jeglicher Normalität – ob mit oder ohne Corona – leben Flüchtlinge auf den verschiedenen Kontinenten. Hunderte Minderjährige sind immer noch auf der Suche nach ihren Familien, nachdem sie vor zwei Jahren an der Grenze von Mexiko bei der Einreise in die USA von ihren Eltern getrennt wurden. Und auf dem Athener Viktoria-Platz haben sich Asylsuchende einen eigenen Kosmos geschaffen, der ihnen zumindest vorübergehend eine Art Alltag ermöglicht.
Wir haben aber auch einige erfreuliche Nachrichten für Sie: Die Vorsitzende von Weltreporter.net, Bettina Rühl, erhält das Bundesverdienstkreuz für ihre Afrikaberichterstattung. Kerstin Schweighöfer entdeckt ein Kunstparadies zwischen holländischen Dünen. Arndt Peltner sucht in Nevada nach Außerirdischen. Und Jürgen Stryjak hat all sein Wissen über Ägypten gebündelt und mit seinen jahrzehntelangen persönlichen Erfahrungen in ein Länderporträt gepackt, das ab August im Buchladen erhältlich ist.
Viele neue Einblicke beim Lesen und hoffentlich etwas Zuversicht wünscht
Ende Juli erhält die Vorsitzende von Weltreporter.net, Bettina Rühl, das Bundesverdienstkreuz. Die langjährige Afrika-Korrespondentin wird damit – auf Vorschlag von Bundesaußenminister Heiko Maas – ausgezeichnet für ihre „unabhängige, überdurchschnittlich engagierte und bemerkenswerte Recherche-Arbeit in und Berichterstattung über Afrika“, so die Begründung. Die Verleihung wird in der deutschen Botschaft in Nairobi stattfinden, die Grenzen von Kenia sind seit Beginn der Corona-Krise geschlossen. Wegen der strengen Pandemie-Vorschriften dürfen maximal zwanzig Personen an der Zeremonie teilnehmen.
Wie konnte die Tahrir-Revolution von 2011 – damals weltweit bewundert – nur so tragisch scheitern? Wie konnten der Optimismus und der Mut so vieler Ägypterinnen und Ägypter so wirkungslos verpuffen? Im Land am Nil leben mehr als 100 Millionen Menschen auf einer besiedelten Fläche der Größe Bayerns. Warum gibt es trotz dieser apokalyptischen Enge, trotz Elend, Unterdrückung und Perspektivlosigkeit nicht mehr Unruhen und bewaffneten Widerstand? In seinem Buch „Ägypten. Ein Länderporträt“ sucht Jürgen Stryjak Antworten auf diese Fragen. Er beleuchtet die Geschichte des Landes vor den Toren Europas, die wirtschaftliche und politische Macht des Militärs, die Umbrüche der überwiegend jungen Gesellschaft, die Rolle des Islams. Das Buch basiert auf umfangreichen Recherchen und neuen Erkenntnissen, vor allem aber auf persönlichen Erlebnissen und Begegnungen aus mehreren Jahrzehnten. Es erscheint im August im Ch. Links Verlag.
Sand und Seerosen, ein Eisvogel, Libellen, Lilien – und ganz viel Kunst: ein Paradies in den Dünen entdeckte Kerstin Schweighöfer, als sie für das Kunstmagazin Art eine Reportage über Voorlinden schrieb. Auf diesem Landgut nördlich von Den Haag im Nobelvorort Wassenaar gehen Natur und Kunst eine perfekte Symbiose ein. Umgeben von Wäldern, Wiesen und Dünen liegt das gleichnamige Privatmuseum, in dem der Rotterdamer Hafenmagnat Joop van Caldenborgh seine Sammlung zeitgenössischer Kunst untergebracht hat. Sie gilt als bedeutendste und größte des Landes und macht vor allem eines: ganz viel Spaß! Kerstin Schweighöfer jedenfalls kam sich vor wie im Schlaraffenland. Nachzulesen demnächst im Augustheft von Art.
Auf der Suche nach Außerirdischen
Amerika ist mehr als Trump-Country. Das versucht Arndt Peltner auch in der Auswahl seiner Themen deutlich zu machen. Das ist nicht immer einfach, denn derzeit hört man oft aus den Redaktionen, dass sie über die aktuelle Berichterstattung schon genügend USA-Themen haben. Zurzeit arbeitet Peltner an einer größeren Hörfunk-Produktion über die Faszination, die UFOs und Außerirdische auf viele Amerikaner ausüben. Er führte Interviews mit einer Frau, die schon mehrmals auf dem Mars war, nachts abgeholt vom „Mothership“,mit einem Doktor, der nicht-irdische Metalle aus Erdlingen operiert und mit einer Frau, die meinte, mit seinem Blick könnte er vielleicht selbst ein „Alien“ sein. Für diese Sendung ging es auch zur sagenumwobenen und streng geheimen Area 51 nach Nevada. Ein Erlebnis der besonderen Art.
Anlaufstelle, Infobörse, Tauschzentrale und Spielplatz – all das ist der Athener Viktoria-Platz. Jeden Abend versammeln sich hier hunderte Asylsuchende, um ein Stück Normalität zu leben. Manche wohnen in der Nähe in selbst angemieteten Wohnungen, die sie sich teilen. Andere kommen aus den Camps im Athener Umland. Weil der Viktoria-Platz der Treffpunkt für Flüchtlinge in Athen ist, haben sich außerdem zahlreiche Hilfsorganisationen in der Nähe niedergelassen. In den Geschäften rund um den Platz gibt es Smartphones und Prepaid-Karten zu kaufen, in einem afghanischen Restaurant werden Deals mit Schmugglern getätigt – für die große Reise nach Deutschland, Frankreich oder Skandinavien. Denn eines will hier niemand: in Griechenland bleiben.
Vor fast genau zwei Jahren gab die US-Regierung zu, dass sie an der Grenze zu Mexiko Kinder von ihren Eltern trennte. Präsident Trump stoppte diese Praxis nach öffentlichen Protesten. Die Los Angeles Times berichtete kürzlich, dass dabei insgesamt fast 4400 Minderjährige von ihren Eltern getrennt wurden. Hunderte von ihnen seien noch immer nicht wiedervereint. Die Flüchtlingsorganisation „Refugee Forum LA“ half bei der Wiedervereinigung von etwa 30 Familien. Sie organisierte eine Online-Konferenz mit zwei Vätern aus Honduras und Guatemala, die von ihrer schmerzhaften Erfahrung berichteten. Sie sind froh, nun in den USA mit ihren Kindern zusammen zu sein. Ihre Aussichten auf Asyl sind unter der Trump-Regierung allerdings sehr gering.
Im Dorf Serra Grande im Süden des brasilianischen Bundesstaates Bahia, wo „soziale Isolation“ vorgeschrieben ist, wirken die TV-Bilder der Pandemie auf mich wie Science Fiction. Hier sind bislang nur drei Fälle bestätigt, das reicht nicht für Panik. Dennoch verlasse ich das Haus nur zum Einkaufen. Manche Läden haben jetzt ein Waschbecken neben ihrem Eingang angebracht. Die Strände sind leer, die Straßen auch. Seit der Pandemie ist die Internetverbindung so wackelig, dass ich mich doppelt isoliert fühle. Besser Gestellte verschanzen sich in ihren Anwesen, lassen sich Sushi, Pizza und Craft-Bier liefern. Sollten sie Partys feiern, merkt das keiner, weil ihre Anwesen so groß sind. Die übrigen Bewohner arbeiten vor allem für diese Oberklasse, pflegen ihre Gärten, kochen oder erledigen für sie Dinge in benachbarten Orten mit deutlich höherem Ansteckungsrisiko.
Ganz Paris ist derzeit ein Open-Air-Vergnügungsviertel. Noch bis Anfang September dürfen Restaurants, Cafés und Bars ihre Tische auf Straßen und Plätze stellen. Der Grund: Aufgrund der beengten Platzverhältnisse in der Stadt können die meisten Restaurants die staatlich geforderten Mindestabstände nicht einhalten. Deshalb wurde eine vorübergehende Terrassen-Bestuhlung genehmigt, die dazu führt, dass die meisten Bar- und Restaurant-Besitzer ihre Gedecke großzügig vermehren, um in den Sommermonaten den verlorenen Umsatz wieder reinzuholen. Touristen sollten sich daher nicht wundern: Tout Paris speist zurzeit gleich neben dem Kirch- oder Museumseingang, aber auch unter Baugerüsten oder auf Parkplätzen, die extra dafür mit Paletten oder Bauzäunen abgegrenzt wurden.
Los Angeles ist in Kalifornien das Gebiet mit den meisten Corona-Infizierten und schwer Erkrankten. Das heißt, es ist noch lange kein Ende in Sicht bei Masken, sozialer Distanz, Homeoffice und Händewaschen. Dennoch starten bereits wieder Flugzeuge von LA, viele davon bis auf den letzten Platz gefüllt. Eine Renaissance erleben Roadtrips: Wohnwagen und Wohnmobile sind bis weit über den Sommer hinaus ausgebucht – und das obwohl kaum Touristen aus dem Ausland nach Kalifornien kommen. Paare, Familien, Wohngemeinschaften gehen in ihrer „Bubble“ auf die Reise. Es ist eine gute Zeit, Nationalparks zu besuchen, wenn man sich eine Reservierung sichern kann – denn die Besucherzahlen sind drastisch eingeschränkt. So steigen die Chancen, Bären, Hirsche und andere Tiere zu sichten.
Seit Monaten ist in China so etwas wie Normalität eingekehrt – selbst in der Hauptstadt Peking, wo es vor kurzem über 300 Neuinfektionen mit Covid19 gab, lässt sich die Pandemie fast schon vergessen. Zumindest, solange die eigene Körpertemperatur nicht über 37 Grad steigt. Andernfalls wird die Organisation des Alltags zum Vollzeitjob: Nicht nur Supermärkte und Restaurants verweigern den Zutritt (Wärmekameras sind vor praktisch jedem Geschäft), auch vor den Wohnsiedlungen wird jeder Besucher gescannt. Wer erhöhte Temperatur hat, kommt also im Zweifelsfall nicht mehr in die eigene Wohnung – und muss mit der Einweisung in eine „zentrale Quarantänestation“ rechnen. Als ich krank wurde, haben mich nur Lieferdienste davor bewahrt. Dank bestellter Reisgerichte und Suppen konnte ich mein — nicht coronabedingtes – Fieber in den eigenen vier Wänden auskurieren.
In Kenia ist noch unklar, wie es in den kommenden Wochen weitergeht. „Normal“ scheint es jedenfalls nicht zu werden, nicht einmal in neuer Form: Die Schulen bleiben bis Januar 2021 geschlossen, Abschlussprüfungen fallen aus. Immerhin ist seit dem 7. Juli die Abriegelung des Hotspots Nairobi aufgehoben, obwohl die Infektionszahlen gerade anfangen, schneller zu steigen. Bis zum 7. Juli wurden 8250 Fälle gemeldet, 167 Menschen sind an Covid-19 gestorben – bei einer Bevölkerung von rund 50 Millionen. Wirtschaftlich lassen sich die Beschränkungen aber nicht länger durchhalten, ab Anfang August werden die Grenzen vorsichtig wieder geöffnet. Ich freue mich sehr darauf, Nairobi zum ersten Mal seit März einfach zum Vergnügen verlassen zu können: Ich werde an einem See übernachten und am nächsten Morgen auf einen Vulkan steigen. Und endlich wieder mal einen Blick in die Weite haben!
Wer wird gerettet – und wer muss sterben, weil ein anderer Patient das Bett auf der Intensivstation bekommt? Über diese bis vor kurzem undenkbare Frage diskutieren die Niederländer, nachdem ein Gremium aus Ärzten und Medizinethikern ein Handbuch mit Kriterien erstellt hat – für den Fall, dass es zum Schlimmsten kommt: zur Triage. Ausschlaggebend bei der Verteilung der Betten sind Aufenthaltsdauer, Beruf und Alter. Sollten immer noch zwei Patienten übrigbleiben, aber nur ein Bett, entscheidet das Los.