Fahrräder auf autofreien Straßen, frische Luft in Großstädten, erholsame Ruhe, wo sich sonst Menschenmassen drängen – mittlerweile haben wir uns an diese Bilder gewöhnt. Aber werden uns die angenehmen Seiten der Covid-19-Pandemie erhalten bleiben? In manchen Regionen wird der Lockdown bald wieder Geschichte sein, in anderen ist der Höhepunkt der Pandemie noch immer nicht erreicht, so etwa in meiner Wahlheimat Mexiko. Doch überall hat die Coronakrise auch Neues hervorgebracht. Sie hat Menschen zu Projekten inspiriert, die in die Zukunft weisen und zeigen, dass ein soziales, nachhaltiges und solidarisches Miteinander möglich ist.
Wir Weltreporter haben uns auf die Suche nach solchen Initiativen gemacht und sind fündig geworden. In Italien planen Stadtverwaltungen einen sanfteren Tourismus, Paris und Lima setzen aufs Fahrrad und in Spanien sollen Wohnungen entstehen, die für Pandemien besser gerüstet sind. Das Ziel: mehr Luft, mehr Grün, mehr Licht.
Auch darüber hinaus bestimmt die Coronakrise weiterhin unseren Reporteralltag. Christina Schott hat auf ihrem Weg nach Europa festgestellt, wie unterschiedlich die Sicherheitsmaßnahmen in Sachen Covid-19 sind. Theresa Breuer dagegen konnte nicht reisen und nutzte ihren Aufenthalt in Israel, um Menschen zu treffen, die aus ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaften ausgestiegen sind. Wer sich indes schon auf einen Club-Abend vorbereiten will, kann sich bei Kerstin Zilm über virussichere Partykluft informieren und über die „Telegrass-App“ Marihuana online bestellen.
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Wolf-Dieter Vogel
WELTREPORTER AT WORK
Abschied aus der jüdischen Orthodoxie
Bis Ende Mai hing Kabul-Weltreporterin Theresa Breuer wegen der Coronakrise in Israel fest. Vor ihrer Heimreise drehte sie mit ihrer Kollegin Vanessa Schlesier eine Reportage für das Y-Kollektiv. Die Reporterinnen begleiteten junge Menschen, die aus der ultraorthodoxen jüdischen Gemeinschaft ausgestiegen sind. Das kann hart sein, denn wer in der Gemeinschaft aufwächst, dessen Leben ist eigentlich vorbestimmt: was man trägt, woran man glaubt, wen man heiratet. Jene, die aus dem starren System ausbrechen wollen, werden oft verstoßen. Sie müssen ihre Familien zurücklassen, ihre Kinder, ihren Halt. Es kann sie überfordern, sich in einer modernen Gesellschaft zurechtzufinden, in der nicht die ihnen bekannten Regeln gelten.
Bis Ende 2020 bleibt Australien für die meisten unerreichbar. Weltreporterin Julica Jungehülsing baut daher jetzt mit ihrer Kollegin Katja Trippel eine virtuelle Brücke: Sie starten die „AustralienStories“ – ein journalistisches Online-Magazin über, genau, Australien. Erschienen sind bereits aktuelle Texte zu Corona, seit Anfang Juni schreiben die Journalistinnen dort auch über erbaulichere Themen: über Känguru-Kämpfe und Feuerkunst, über eine Paddlerin, die den Murray River bezwingt, über Bioweine und Hainetze – um nur ein paar Ideen zu verraten. Heimat der AustralienStories sind die Riffreporter, eine Online-Plattformfür unabhängigen Journalismus. Die drei Weltreporter-Kolleginnen Bettina Rühl, Leonie March und Sarah Mersch sind dort bereits seit einem Jahr als Afrika-Reportervertreten.
Die erste Kontrolle am Flughafen von Yogyakarta wartet am Eingang: Fieber messen. Im Gebäude wird dann die Dokumentation des obligatorischen Covid-19-Negativ-Tests überprüft, der nicht älter als 72 Stunden sein darf. Nach drei weiteren Formularen und Statements geht es zum Check-In: Fast scheitert die Reise am fehlenden Original der Sondergenehmigung, ohne die niemand im Land unterwegs sein darf. Überall stehen Flaschen mit Desinfektionsmittel. Im Flieger muss jeder zweite Platz frei bleiben. Es herrscht Maskenpflicht, einige Passagiere tragen Handschuhe und Schutzbrillen. Beim Umsteigen in Jakarta folgt eine weitere Fieber- und Dokumentenkontrolle. Dann Staunen nach der Landung in Amsterdam: Längst nicht alle tragen Masken, die Seife in der Toilette ist alle, das Desinfektionsmittel wird bei der Gepäckkontrolle beanstandet. Beim Weiterflug ist die enge Maschine bis auf den letzten Platz besetzt. Und in Berlin? Gibt es ein Merkblatt zur Quarantäne: für Reisende aus der EU nur noch freiwillig. Wer allerdings aus Indonesien einreist, solle sich unverzüglich beim Gesundheitsamt melden.
Eigentlich wären die 50 Mitarbeiter von Produktion Club jetzt weltweit unterwegs auf Mega-Veranstaltungen für die Musik- und Tech-Industrie. Wegen des Coronavirus entwickelt das Unternehmen aus Los Angeles stattdessen coole Schutzbekleidung. „Micrashell“ ist eine Mischung aus Taucher- und Weltraumanzug, in dem man rauchen, trinken und sein Smartphone bedienen kann. Er hat einen Helm mit eingebauten Lautsprechern, Kamera, LED-Lichtern am Rundum-Visier, Ventilator und Virus-Filter. Noch ist „Micrashell“ in der Prototyp-Phase. „Wenn wir einen Covid-19-Impfstoff haben, bevor der Anzug auf den Markt kommt, freue ich mich“, sagt der Kreativchef, „aber wir gehen leider davon aus, dass es eine andere Pandemie geben wird”.
Sein Job zählt zu den schwierigsten, die man in diesen Tagen haben kann: Hugo López-Gatell ist Regierungsbeauftragter für die Pandemie. Dennoch gilt der 51jährige derzeit als beliebtester Mann Mexikos. Kaum war er das erste Mal aufgetreten, machten auf Facebook Jugendphotos von ihm die Runde. Frauen fragten sich, ob der attraktive Mann noch zu haben sei. Wie kein anderer kann López-Gatell selbst die schlechtesten Nachrichten verdaulich präsentieren. Sein Team kümmert sich nicht nur um medizinische Fragen, sondern auch um soziale Probleme, die das Virus mit sich bringt: Gewalt in der Familie, die Konsequenzen für behinderte Menschen oder etwa die Sorge einer Siebenjährigen, die ihren Geburtstag mit Freundinnen feiern möchte. Auch Weltreporter Wolf-Dieter Vogel verfolgt die täglichen Pressekonferenzen des Experten nicht nur aus beruflichem Interesse.
Drei Musiker aus Barcelona nutzen die Ausgangssperre, um alle paar Tage einen Song aufzunehmen – immer in einem anderen Stil, mit Corona-relevanten Texten und meist mit einem „Special Guest“, einem per Smartphone zugeschalteten befreundeten Musiker. Mit diesem Rezept haben sich die Stay Homas in Rekordzeit eine beachtliche Fangemeinde aufgebaut, zu der auch Weltreporterin Julia Macher gehört. Inzwischen plant die Zufallsband ihr erstes eigenes Konzert, natürlich erst, wenn die Behörden grünes Licht für Veranstaltungen geben.
„Keine Sorge, wir sind auch in diesen Zeiten für euch da. Cannabis ist wichtig für eure Gesundheit!“, hieß es auf der Facebook-Seite von „Telegrass“. Als Amos Dov Silver 2017 mit der App Telegrass einen virtuellen Umschlagplatz für Gras und andere Drogen etablierte, wurde er dafür von begeisterten Kunden gefeiert. Inzwischen sitzt er zwar wegen Drogenhandels im Gefängnis, doch sein Unternehmen floriert. Über die App kann jeder zum Dealer werden oder ohne großes Risiko für den Eigenbedarf bestellen. Kiffen ist immer noch illegal, die Gesetze wurden aber etwas gelockert, um den Handel mit medizinischem Cannabis zu erleichtern. Israel gilt in der Forschung als Vorreiter – gerade gab es eine erste virtuelle Konferenz für PsyTech, also für Technologien rund um die Forschung und Anwendung psychedelischer Drogen.
Auf der Suche nach dem Guten in schwierigen Zeiten
Nachhaltiges Umdenken in Italien?
Delfine im Hafen von Cagliari, klares Kanalwasser in Venedig, und Florenz ohne Massentourismus: Die Italiener können wieder saubere Luft atmen, sich über die 1A-Qualität ihrer Küstengewässer freuen und ihre Museen besuchen, ohne anstehen zu müssen. Kaum jemand möchte daher das Rad komplett zurückdrehen. Trotzdem macht sich Pessimismus breit, besonders dort, wo alles am Tourismus hängt. Viele wissen nicht, wie es weitergeht. Derzeit arbeiten Regierung und Stadtverwaltungen Konzepte aus, die einen nachhaltigen Lebensstil mit wirtschaftlicher Prosperität vereinen sollen. In Florenz wurde bereits ein Diskussionspapier vorgelegt. Die Vorschläge reichen von einer fahrradfreundlichen Verkehrspolitik bis zur Subventionierung lokaler Handwerksbetriebe.
Einen Antrag einfach im Internet stellen und die Antwort 24 Stunden später als SMS mit QR-Code aufs Handy bekommen? Das hätte Weltreporterin Sarah Mersch in Tunis bis vor Kurzem kaum zu träumen gewagt. Vor der Corona-Pandemie wurde sie schon mal ruppig zurechtgewiesen, wenn sie eine Presseanfrage an offizielle Stellen per Mail schickte. Briefkopf, Stempel, Fax – so lief das früher. Doch jetzt durchlebt die Verwaltung geradezu eine Digitalisierungswelle. Wie diese positive Entwicklung auch über die Pandemie hinaus anhalten kann, darüber hat Sarah Mersch mit dem ehemaligen tunesischen Minister für Digitalwirtschaft gesprochen. Der ist der Meinung, Corona habe in wenigen Wochen mehr erreicht, als er während seiner eineinhalb Jahre langen Amtszeit.
Die Krise ändert Spaniens Architektur. Da sich in dem Land ein Großteil des Lebens außerhalb der eigenen vier Wände abspielt, hat man den Wohnungsbau bislang stiefmütterlich behandelt. Dunkle Wohnungen mit kleinen, zum Lichtschacht gelegenen Zimmern waren keine Ausnahme. Jetzt fordern Architekten ein Umdenken: „Wie konnten wir zulassen, dass ausgerechnet die Badezimmer oft keine natürliche Belüftung haben?“, fragt etwa Barcelonas Chefarchitekt Xavier Matilla. Auch in Madrid und Valencia will man künftig Covid19-sicher bauen: Aufzüge und Türen sollen sich kontaktlos über Sprach- oder Gesichtserkennung steuern lassen, begrünte Dachterrassen als gemeinschaftlicher Rückzugsraum dienen und smarte Technologien komfortables Homeoffice ermöglichen. „Die Wohnung wird zur Mikrostadt“, glaubt Vicente Guallart vom Institute for Advanced Architecture of Catalonia (IAAC).
Die Corona-Krise hat Bürgermeisterin Anne Hidalgo in ihrem Bemühen geholfen, Paris zu einer Fahrrad-Stadt umzuwandeln. Als am 11. Mai das „confinement“ zu Ende ging, waren in der Hauptstadt 50 Kilometer neue Radwege installiert. Einige davon sind von kurzer Dauer und dienen vor allem dazu, in der Post-Corona-Zeit den öffentlichen Verkehr zu entlasten. Andere, wie die Rue de Rivoli, sind von Dauer. Die wichtige Achse, die quer durch die Innenstadt verläuft, ist nun komplett für private Kraftfahrzeuge gesperrt. Die Bevölkerung nimmt die neue Trasse begeistert auf. Selbst Kinder, die bis dato kaum in Paris radelten, trauen sich nun aufs Velo.
Auch in Lima geht es mit Radwegen voran: Bis zu 300 Kilometer lang könnten die Streifen insgesamt werden, sogar ein subventioniertes Fahrradmodell soll es geben. Ob die Bewohner Limas das Angebot annehmen, muss sich zeigen: Fahrradabstellplätze sucht man lange, der Straßenverkehr ist chaotisch, die Luftqualität schlecht. Vor der Quarantäne gehörte Lima zu den Städten mit der stärksten Luftverschmutzung weltweit.
Prostituierte hinter rot erleuchteten Fenstern, Kneipen und Coffeeshops – aber auch Tante-Emma-Läden, Kitas, Büros und Wohnungen. Das macht die Wallen, wie der Amsterdamer Rotlichtbezirk heißt, so besonders. Doch aufgrund der Horden grölender, besoffener und bekiffter Touristen kamen die Wallenbewohner kaum noch nach draußen. Nicht, weil sie sich nicht trauten – nein, weil sie es wegen der Menschenmassen vor der Tür nicht konnten. Viele mussten sich mit Absperrgittern die Touristen vom Leibe halten und sie daran hindern, gegen Hauswände zu pinkeln. Durch den Lockdown herrschte wohltuende Ruhe. Das soll so bleiben, und deshalb hat die Bürgerinitiative „Stoppt den Wahnsinn!” Oberbürgermeisterin Femke Halsema einen Maßnahmenkatalog vorgelegt: Subventionen nur für hochwertige neue Läden, die Einführung eines „Haschpasses“, damit nur noch einheimische Kiffer in die Coffeeshops dürfen. Und wer sein Hotel in Wohnungen oder Büros umwandelt, soll finanziell belohnt werden.
Büroangestellte kochen Reispakete für Rikscha-Fahrer, Studenten nähen Masken für Marktverkäuferinnen, Künstler produzieren Schutzanzüge für medizinisches Personal: Seit die indonesische Wirtschaft wegen Covid-19 in großen Teilen stillsteht, sind die sozialen Medien in Indonesien voll mit Spendenaufrufen für private Hilfsinitiativen. Das Coronavirus ist für viele wie eine weitere Naturkatastrophe – und daran sind sie gewöhnt. Ob Erdbeben, Vulkanausbrüche, Tsunamis: Bis die Hilfe der Zentralregierung in Jakarta auch die äußersten Provinzen des riesigen Inselstaates erreicht, sind Improvisation und Selbsthilfe gefragt. Laut dem Legatum Prosperity Index 2019 gibt es in keinem anderen Land ein höheres Mobilisierungspotential für freiwillige Helfer als in Indonesien, das weltweit den ersten Platz für zivile und soziale Teilhabe belegt.
Am 11. Juli jährt sich der Völkermord von Srebrenica zum 25. Mal: Niederländische Blauhelme konnten 1995 nicht verhindern, dass bosnisch-serbische Truppen unter der Leitung von General Ratko Mladic die Moslemenklave im Osten Bosniens eroberten und mehr als 8.000 Männer und Jungen ermordeten. Dieses größte Blutbad auf europäischem Boden seit dem Zweiten Weltkrieg ist auch für die niederländische Gesellschaft, die sich als Hüterin des Erbes von Anne Frank sieht, eine offene Wunde. Mit Ausstellungen und Gedenkfeiern erinnern die Niederländer jedes Jahr an die Ermordeten. Inzwischen werden Stimmen laut, die Srebrenica und dem Bürgerkrieg auf dem Balkan im Geschichtsunterricht an Schulen mehr Aufmerksamkeit verschaffen wollen.
Weltreporter Paul Flückiger beobachtet in Polen, wie am 28. Juni nun doch ein Staatspräsident gewählt wird. Eine umstrittene Briefwahl am 10. Mai wurde kurzfristig abgesagt. Inzwischen ist es für Polens starken Mann, Jaroslaw Kaczynski, und seine rechtspopulistischen Regierungspartei „Recht und Gerechtigkeit" (PiS) nicht mehr ganz so einfach, Amtsinhaber Andrzej Duda für weitere fünf Jahre bestätigen zu lassen. Dies wäre wichtig für den Machterhalt der PiS. Doch im Zuge der Corona-Pandemie bricht gerade die Wirtschaft ein, auch kommen erste Korruptionsskandale bei der Maskenbeschaffung zu Tage. Duda wird vom Warschauer Bürgermeister Rafal Trzaskowski bedrängt und könnte die zweite Runde (am 12. Juli) gegen ihn verlieren.
Der Sherlock-Holmes-Erfinder, Arthur Conan Doyle, wurde 1859 in Edinburgh geboren. Sein Todestag jährt sich am 7. Juli zum 90. Mal. Weltreporterin Nicola de Paoli begabsich in der schottischen Hauptstadt auf seine Spuren und beschreibt seinen Aufstieg vom Studenten zum gefeierten Schriftsteller. Ihr Weg führte sie unter anderem zu der Universität, an der sich der junge Doyle im Fach Medizin eingeschrieben hatte. Von einem brillanten Hochschullehrer war er derart angetan, dass er ihn als literarische Vorlage für die Figur des Sherlock Holmes verwendete. Sir Arthur ist nicht der einzige weltberühmte Autor aus Edinburgh. Die schottische Hauptstadt ist Unesco-Literaturstadt.