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Liebe Genossinnen und Genossen,
liebe Freundinnen und Freunde der
AG Migration und Vielfalt,
das Jahr 2015 war ein ereignisreiches Jahr mit vielen Höhen und Tiefen. Mit Höhen als Deutschland sein schönstes Gesicht auf unseren Bahnhöfen zeigte und die Zivilgesellschaft die Flüchtlingsarbeit in weiten Teilen der Republik engagiert stemmte. Und Tiefpunkte mit den Gidas, den PolitikerInnen, die den Rechtspopulisten nach dem Mund redeten, Verschärfungen, die im Asylrecht einzogen und den täglich neuen Horrormeldungen über Angriffe auf Geflüchtete.
Als AG haben wir die politischen Ereignisse kritisch begleitet und mit konstruktiven Hinweisen die Politik der SPD mitgestaltet. Nicht nur in der Flüchtlingspolitik, sondern in allen Bereichen der Teilhabe- und Integrationspolitik. Mit viel Spaß und Herzblut. Wir hoffen, dass Ihr unsere Arbeit mit Freude begleitet habt und auch im nächsten Jahr an unserer Seite seid, wenn wir gemeinsamen für unsere Themen kämpfen. Für Eure bisherige Unterstützung, Hinweise und Kritik möchten wir Euch herzlich danken!
Wir wünschen Euch in den nächsten Tagen und Wochen entspannte Feiertage und viele Momente zum Kraftauftanken im Beisein Eurer Liebsten. Feiert ausgiebig ins neue Jahr, wir haben schließlich in 2016 gemeinsam viel vor.
Folgende Themen findet Ihr in diesem Newsletter:
- Bericht vom Bundesparteitag 2015
- Aus dem Bundesvorstand
- Beschluss: Schluss mit den Nebelkerzen – Ruhe und Stringenz in der Flüchtlingspolitik
- Beschluss: Vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU: viele offene Fragen und ein erlahmter Reformdiskurs
Wir wünschen Euch viel Spaß beim Lesen und Meinung bilden. Ihr seid herzlich eingeladen, Eure Anregungen und Wünsche an uns zu schreiben. ( a.bozkurt@agmigration.de)
Solidarische Grüße
Bundesvorsitzender der AG Migration und Vielfalt
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Bericht vom Bundesparteitag 2015
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Schon am ersten Tag hat der Bundesparteitag den Antrag „Solidarität und Verantwortung in Staat und Gesellschaft“ zur Flüchtlingspolitik diskutiert und beschlossen. An der Debatte zum Antrag beteiligten sich aus unserem Bundesvorstand Aziz, Irena und Stella mit Beiträgen. Damit zeigten wir neben unserem Stand auch starke Präsenz bei der inhaltlichen Diskussion.
Den grundsätzlich schon sehr erfreulichen Aufschlag durch die Landesverbände Hessen und Nordrhein-Westfalen konnten wir mit Änderungsanträgen an zwei Punkten verbessern und die sozialdemokratische Positionierung deutlicher machen. So konnten wir beim Thema Familiennachzug und bei der Kostenbeteiligung von Geflüchteten an Sprachkursen rote Linien durchsetzen. Beim Familiennachzug haben wir den Kreis der betroffenen auf die „heute subsidiär Schutzberechtigten (ca. 1.800)“ festlegen können und eine Klärung herbeigeführt, dass der Familiennachzug „nach zwei Jahren ermöglicht“ wird. Bei der Kostenbeteiligung an Integrations- und Sprachkursen konnte folgender Abschnitt reinverhandelt werden: „Wir lehnen es ab, dass ausgerechnet diejenigen schlechter gestellt werden, die sich um Integration bemühen und einen Sprachkurs absolvieren. Eine individuelle Beteiligung an den Kosten der Sprachkurse lehnen wir ab, denn sie würde stark integrationshemmend wirken.“
Der Freitag war geprägt durch die Wahlen zum Parteivorstand. Hier gilt es kritisch anzumerken, dass wir innerparteilich noch Nachholbedarf in Sachen sichtbare Vielfalt haben. Mit unserem stellvertretenden Bundesvorsitzenden Josip Juratovic konnten wir ein sehr gutes Angebot machen, welches leider durch vorherige Absprachen zwischen den Landesverbänden nicht durchgesetzt werden konnte. Wir sind Josip sehr dankbar, dass er die Kandidatur für uns und mit uns durchgezogen hat, da es nun nicht mehr heißen kann, dass es keine Angebote gegeben hätte. Wir werden die Landesverbände weiter antreiben, das Thema der Vielfalt in unseren Gremien im Blick zu behalten. So bleiben wir mit nur drei Personen mit Migrationsgeschichte hinter dem vom Parteivorstand selbst gesteckten Ziel von 15%, was mindestens fünf Personen bedeutet hätte.
Leider fielen den langen Diskussionen am ersten Tag und dem Versagen der Abstimmungstechnik am zweiten Tag, einige für uns relevante Anträge (wie zum Thema Interkulturelle Öffnung) zeitlich zum Opfer und wurden auf den nächsten Parteitag vertagt. Wir konnten jedoch vorab mit der Antragskommission verabreden, das Thema zusammen mit dem Willy-Brandt-Haus Anfang des Jahres voranzubringen. Wir halten Euch weiterhin auf dem Laufenden, denn es geht bei diesem Thema schlicht um die Zukunftsfähigkeit der Sozialdemokratie.
Wie vor zwei Jahren war die AG Migration und Vielfalt zusammen mit den anderen Arbeitsgemeinschaften wieder mit einem Stand beim Bundesparteitag vertreten. Dieses Jahr wurde zusätzlich eine Fotoaktion durchgeführt, bei der es darum ging, aus dem Slogan "Wir schaffen das!" ein "Wir machen das!" zu kreieren und dies entsprechend mit Inhalt zu füllen. Die BesucherInnen am Stand wurden ermuntert den Satz "Wir machen das, weil..." zu ergänzen und sich mit dem Slogan ablichten zu lassen. Mit unserem Fotodrucker haben wir die Bilder sofort ausgedruckt und für alle BesucherInnen sichtbar an eine Wand gepinnt.
Die Fotos und deren Texte können auch auf unserer Facebook-Seite nachgelesen werden. Zu den Prominenten, die sich an unserem Stand ablichten ließen, gehörten u. a. Torsten Albig, Thomas Oppermann, Aydan Özoğuz, Ralf Stegner, Thorsten Schäfer-Gumbel, Andre Stinka, Serpil Midyatli, Elke Ferner, Turgut Yüksel, Karamba Diaby, Johannes Kahrs und viele mehr.
Auch Yasmin Fahimi und Katarina Barley, die "alte" und "neue" Generalsekretärin der SPD, kamen zu unserem Stand. Wir bedankten uns bei Yasmin für die Unterstützung in der Vergangenheit und konnten die gemeinsame Arbeit kurz ein wenig Revue passieren lassen. Ihre deutlichen Worte gerade gegen rechtspopulistische Umtriebe waren wirklich Balsam auf die sozialdemokratische Seele. Wir freuen uns auf eine gute Zusammenarbeit mit Katarina, die sich sehr herzlich mit uns unterhalten hat und deutlich machte, dass ihr die Arbeit der Arbeitsgemeinschaften wichtig sei.
Alles in allem, ist so ein Messestand von morgens bis abends schon sehr anstrengend, doch wir sind der Meinung, dass es sich auf jeden Fall gelohnt hat und wir unsere AG gut präsentieren konnten.
An dieser Stelle auch nochmal ein großer Dank an das Team vom Willy-Brandt-Haus in Person von Wiebke, Raana und Niklas, die uns hervorragend unterstützt haben und vor Ort stets ansprechbar waren.
Am Freitagabend waren wir zudem in der Dialogarena mit einer Podiumsdiskussion vertreten. Zu Gast war hier Breschkai Ferhad von den Neuen Deutschen Organisationen. Sie diskutierte unter der Moderation unseres Bundesvorsitzenden Aziz Bozkurt mit unserer stellvertretenden Bundesvorsitzenden Nadia Khalaf zum Thema "Land der Vielfalt. Was hält uns zusammen? Werte, Kultur oder Symbole?".
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Am 28. und 29. November fand in Frankfurt am Main die zweite Sitzung des Bundesvorstandes statt. Zusätzlich traf am Samstag der Bundesausschuss zusammen. Im Fokus der Sitzung des Bundesvorstands standen, nebst wichtigen organisatorischen Fragen, die Weichenstellungen zur Zielgruppenarbeit und die Vorbereitungen auf den Bundesparteitag.
Im Bundesausschuss ging es vornehmlich um zwei wichtige inhaltliche Fragen, zu denen Ihr in den folgenden Abschnitten Positionspapiere findet, die am Wochenende im Bundesvorstand beschlossen wurden. Den ersten Part bildete die Flüchtlingspolitik. Unser stellvertretender AG-Vorsitzender und integrationspolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion Josip Juratovic gab mit seinem Aufschlag einen Überblick über die Beschlüsse der Bundestagsfraktion in den letzten Monaten und Wochen und stellte die aktuellen Diskussionspunkte dar.
Kritisch wurden anschließend die Kompromisse der Vergangenheit und die aktuellen durch die Delegierten kommentiert. Im Rahmen der kontroversen, aber sehr sachlichen und anspruchsvollen Diskussion wurden insbesondere die Beschlüsse Ende Oktober und das neue Kompromisspapier der Koalitionsspitze kritisiert. Fast durchgängig wurde betont, dass man sich notwendigen Reformen nicht verschließen dürfe und dass Errungenschaften der SPD – gerade diejenigen Inhalte, die bis zum Sommer durchgesetzt wurden – einige zu schluckende Kröten rechtfertigten, jedoch die positiven Aspekte mittlerweile kaum bis gar nicht mehr sichtbar seien.
Im Lichte dieser Diskussion hat der Bundesvorstand das Papier „Schluss mit den Nebelkerzen - Ruhe und Stringenz in der Flüchtlingspolitik“ beschlossen.
Der zweite inhaltliche Block war bestimmt durch den vierten Jahrestag der Aufdeckung des NSU und den dazu eingerichteten Ausschüssen im Bund und in einigen Ländern, hierbei insbesondere Hessen. Unter dem Titel „NSU - Ein dunkles Jahrzehnt behördlichen Versagens“ waren die Delegierten eingeladen, mit unseren ReferentInnen Johannes M. Barrot (Referent der SPD-Landtagsfraktion für den NSU-Untersuchungsausschuss), Mehmet Daimagüler (Rechtsanwalt und Vertreter der Nebenklage / Opferfamilien im Prozess am Oberlandgericht München) und Heike Habermann (MdL, Vizepräsidentin des hessischen Landtags / SPD) zu diskutieren.
Einigen Delegierten war nach der Diskussion sichtbar anzumerken, wie schockiert sie nach den Berichten waren. Schockiert über die aufgedeckten Details bei den Morden, aber auch über die Arbeit der Sicherheitsbehörden, die teilweise mehr Engagement zur Erschwerung statt Erleichterung der Aufklärung verwendeten und noch verwenden. Dass im Münchner Verfahren einem Nazi im Zeugenstand vom hessischen Verfassungsschutz ein Rechtsanwalt ausgesucht und bezahlt wurde, war nur die Spitze des Eisbergs, der viel mehr Fragen aufwirft. Dementsprechend erhärtete sich auch die Einschätzung der DiskutantInnen, dass gerade in Hessen ein wichtiger Schlüssel zur Aufklärung der Hintergründe liegt. Ärgern kann man sich da nur, dass die hessische Schwarz-Grüne Koalition offensichtlich wenig Interesse an Aufklärung hat. Die Rolle des hessischen Regierungschefs Volker Bouffier, der in der Vergangenheit Innenminister war, scheint dabei sehr spannend. Aber auch die Grünen stellen sich schützend vor ihren Ministerpräsidenten.
Den gesamten Reformprozess und die Diskussionen drum herum, fasst das Podium treffend zusammen: es scheint, als hätten einige AkteurInnen das Ziel, an der Geschichte zu stricken, dass es erstens viele schlimme Pannen gab, dass man sie zweitens erkannt und drittens dafür gesorgt hätte, dass sie nicht mehr passieren könnten. Dabei kann man davon ausgehen, dass hier kaum nur von Pannen die Rede sein kann, dass die Aufklärung sicher noch nicht abgeschlossen ist und die notwendigen Reformen kaum abschließend gefunden und angegangen wurden. Im Papier „Vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU – viele offene Fragen und ein erlahmter Reformdiskurs“ fasste der Bundesvorstand passend die weiteren Reformbedarfe zusammen.
Aufgrund der inhaltlichen Diskussionen blieb den Delegierten etwas weniger Raum zum Austausch über die bisherige Arbeit des Bundesvorstands. Der Vorstand zeichnete dabei nochmal nach, dass in der ersten Phase der Fokus darauf lag, die AG in der parteiinternen wie -externen Öffentlichkeit als Ansprechpartner zu verankern. Jetzt gilt es mit dieser Vorarbeit, die inhaltlichen Anliegen zu konkretisieren und in die SPD reinzutragen.
Im Bundesvorstand wurde hierzu der Fokus in den einzelnen Themenfeldern, die von der Bundeskonferenz vorgegeben wurden, in konkrete Arbeitspakete gegossen und auf das nächste Jahr verteilt. Beim nächsten Bundesvorstand, der im Februar in Stuttgart geplant ist, soll die Idee eines Partizipations- und Integrationsgesetzes diskutiert werden. Im Juni sollen in Hannover unsere Ideen für ein Einwanderungsgesetz finalisiert werden. Hier ist der nächste Bundesausschuss und der Kommunalkongress zur Vernetzung kommunalpolitisch aktiver GenossInnen mit Migrationshintergrund in Planung. Im Herbst geht es dann in der Wahlkampfphase – wie in Baden Württemberg im Februar – nach Berlin. Vorschläge zur strukturellen Einordnung der Integrationspolitik in die Ressorts und zur Aufstiegs- bzw. konkret Antidiskriminierungspolitik werden hier Thema sein. Das Jahr 2016 soll ein Bundesausschuss in Kiel abschließen, bei dem wir uns das Thema Extremismus in der Einwanderungsgesellschaft vornehmen wollen.
Zum Thema Zielgruppenarbeit war Dmitri Stratievski aus unserer AG in Berlin eingeladen, der von den Erfahrungen der Gründung einer Projektgruppe zu russischsprachigen GenossIberichtete und Erfolge und Herausforderungen für die Zielgruppenarbeit schilderte. Die Tatsache, dass durch die Projektgruppe zahlreiche neue GenossInnen in dieser Zielgruppe gewonnen werden konnten und die Gruppe als Ansprechpartner in der Community – mit ihrer ganzen Vielfalt – etabliert werden konnte, weckten großes Interesse. Angemerkt wurde jedoch skeptisch, dass man mit zu vielen Einzelgruppen nicht zu sehr auseinanderdriften dürfe. Hier wird der Bundesvorstand noch an einem schlüssigen Gesamtkonzept arbeiten und der SPD Vorschläge unterbreiten. Fragestellungen im Zentrum sind dabei, wie neue Zielgruppen in der Einwanderungsgesellschaft besser erreicht werden können, wie ein institutionalisierter Austausch mit der Einwanderungsgesellschaft aussehen und wie die Vernetzung der bisherigen Mitglieder mit Migrationshintergrund unterstützt werden kann.
Zur Vorbereitung auf den Bundesparteitag wurde zunächst über die Vorschlagslisten für den Parteivorstand diskutiert. Ärgerlich ist, dass die KandidatInnen-Lage hinsichtlich der Fragestellung nach dem Aspekt Vielfalt momentan recht dürftig ist. Neben Aydan Özoguz, stehen Niels Annen und Katarina Barley zur Wahl. Nach unserem Geschmack deutlich zu wenig. Deshalb sind wir nun auf Suche nach möglichen KandidatInnen, die wir unterstützen können. Mit Josip Juratovic sind wir glücklicherweise in unseren Reihen schnell fündig geworden. Er hat sich bereit erklärt, für den Parteivorstand zu kandidieren und wir haben ihn hierfür nominiert.
Passend zu diesem Personalthema ist das Votum der Antragskommission zu unseren Vorschlägen zur interkulturellen Öffnung der SPD. Die Kandidaturen zeigen auf, dass wir doch noch einen gewissen Weg als Vielfaltspartei vor uns haben. Wir wollen deshalb mit der Antragskommission ins Gespräch kommen, wie ein entsprechender Kompromiss aussehen könnte, der die konkreten Vorschläge, die wir in den letzten zwei Jahren gewissenhaft erarbeitet haben, beinhaltet. Die grundsätzliche Annahmebereitschaft ist dabei erst einmal sehr erfreulich. Eine weitere Diskussion wird uns beim Thema Racial Profiling erwarten. Anstelle unseres Antrags mit konkreten Vorschlägen zu Gesetzesänderungen, soll alternativ ein Antrag beschlossen werden, der teilweise nur eine reine Absichtserklärung darstellt. Wir hoffen, dass ihr über eure Landes- und Bezirksverbände auf die Punkte hinweist und so unsere Anliegen gemeinsam mit uns voranbringt.
Also wieder einmal ein sehr inhaltsreiches Wochenende mit Diskussionen, neuen Ideen und Visionen für die SPD. Gebt uns gerne Feedback und weitere Ideen, denn es ist unsere gemeinsame Aufgabe, die SPD zukunftsfest zu machen.
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Schluss mit den Nebelkerzen – Ruhe und Stringenz in der Flüchtlingspolitik
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Zu Recht wird immer wieder nach Haltung und klarer Linie gefragt, wenn es um die Flüchtlingspolitik geht. Die pogromartige Stimmung der 1990er Jahre ist vielen noch im Erinnerung und die steigende Zahl an Übergriffen auf Flüchtlingsheime und Geflüchtete weckt berechtigte Ängste. Ein Blick auf diverse Umfragewerte und Studien zeigt, wie sehr eine progressive Haltung wichtig ist.
Wir leben in einer 30-40-30 Gesellschaft: 20 bis 30% der Deutschen sind euphorisch und positiv gesinnt, wenn es um die Einstellung zur Einwanderungsgesellschaft geht. Auf der anderen Seite stehen 20 bis 30% der Deutschen der Vielfalt in der Gesellschaft skeptisch bis offen rassistisch und ablehnend gegenüber. Beide Blöcke lassen sich kaum bewegen. Beweglich ist hingegen die Mitte. 40% in der sogenannten Mitte, die nach Orientierung sucht. Diese Zielgruppe müssen politische Akteure im Blick haben, wenn verhindert werden soll, dass die Stimmung kippt. Diese Gruppe muss für eine offene Gesellschaft gewonnen werden.
Was passiert, wenn dies nicht geschieht, zeigt ein Blick auf unser Nachbarland Frankreich. Die Vorsitzende des rechtsextremen Front National Marine Le Pen schaffte es in den letzten Jahren Diskurse negativ zu prägen und die gesellschaftliche Haltung zur Asyl- und Flüchtlingspolitik zu kippen. Ihre klare Haltung hat dazu geführt, dass die Mitte bröckelt. In diesem Fall leider in die falsche Richtung. Gleichzeitig laufen die bisherigen Volksparteien ihren Botschaften hinterher.
Das darf uns in Deutschland nicht passieren. Gerade die progressiven Kräfte unserer Gesellschaft sind gefordert, Orientierung zu geben. Nur so lässt sich die noch unentschlossene Mitte für ein weltoffenes Deutschland gewinnen. Betrachten wir jedoch das letzte Jahr in der Flüchtlingspolitik, fällt eine Politik ins Auge, die Achterbahnen statt eindeutige Linie zeichnet. Beispiele dafür gibt es viele:
- Sachleistungsprinzip: im Rahmen des Reformpakets im Juli 2015 wurde das Sachleistungs-prinzip, Mit der Argumentation, dass der Verwaltungs- und Bürokratieaufwand sehr hoch sei, aufgegeben. Hinzu kam die sozialdemokratische Argumentation, den Menschen das Recht zu geben, sich selbstbestimmt ernähren und versorgen zu können. Mit der Reform Ende Oktober, d. h. gerade einmal drei Monate später, hat die Bundesregierung, um den Verwaltungs-aufwand wissend, das Sachleistungsprinzip als Soll-Bestimmung wieder eingeführt.
- Familiennachzug: die SPD hat im Sommer durchgesetzt, dass die restriktive Ausnahmeregelung beim Familiennachzug für subsidiär Geschützte weggefallen ist. Zu Recht wurde dieser Schritt als bedeutender menschenrechtlicher Fortschritt gefeiert. Die Bundesregierung will nun mit einem neuen Gesetzesvorhaben diese Errungenschaft kippen. Betrachtet man, dass diese Regelung nicht einmal 2.000 Menschen betrifft, stellt sich die Frage nach der Sinnhaftigkeit.
- Integrations-und Sprachkurse: die Erweiterung der Teilhabemöglichkeit von Geflüchteten an Integrations-und Sprachkursen schmückte im letzten Jahr viele Papiere der Bundesregierung. Berechtigterweise, wenn man sich gerade Sorgen um den gesellschaftlichen Zusammenhalt in Zukunft macht. Konträr zu diesem Ziel steht ein neuer Reformvorstoß, der vorsieht, dass Geflüchtete von dem Wenigen was sie erhalten, einen „solidarischen Beitrag“ (wie es der Gesetzesentwurf euphemistisch nennt) zur Finanzierung der Kurse leisten sollen. Der Sinn, gerade solch ein Integrationshindernis aufzubauen, erschließt sich nicht wirklich. Insbesondere im Anbetracht der Tatsache, dass dieser kleine Gesamtbeitrag den Haushalt kaum spürbar berühren wird. Besser kann man Integrationsanstrengungen nicht sabotieren.
- Verfahrensdauern: im Koalitionsvertrag wurde noch festgehalten, dass Asylverfahren möglichst innerhalb von drei Monaten beendet sein sollen. Es ist nichts weiter als eine Kapitulationserklärung, dass die Bundesregierung jüngst die maximale Verweildauer in Erstaufnahmeeinrichtungen auf sechs Monate hochsetzte. Für die Verkürzung der Verfahrensdauer wurde eine deutliche Aufstockung der Stellen beim BAMF beschlossen. Auch dieser Stellenaufbau geht nur sehr schleppend voran.
- Asylbewerberleistungsgesetz: die Bundesregierung ist im Laufe des Jahres dem eindeutigen Votum des Bundesverfassungsgerichts gefolgt und hat die Leistungen nach dem Asylbewerbergesetz so angepasst, dass ein menschenwürdiges Leben möglich ist. Das Bundesverfassungsgericht machte im Rahmen seines Urteils aus dem Jahr 2012 zum Asylbewerberleistungsgesetz deutlich, dass die „in Art. 1 Abs. 1 GG garantierte Menschenwürde (…) migrationspolitisch nicht zu relativieren“ sei. Im Rahmen der letzten Reform im Oktober wurde jedoch ein „physisches Existenzminimum“ für bspw. vollziehbar Ausreisepflichtige definiert. Zahlreiche Juristinnen und Juristen gehen derzeit davon aus, dass diese Regelung vom Bundesverfassungsgericht gekippt werden wird.
- Geflüchtete aus Syrien: aufgrund einer sehr hohen Anerkennungsquote für Geflüchtete aus Syrien wurden die Dublin-Verfahren für selbige außer Kraft gesetzt, d. h. auf Rücküberstellungen in den Einreisestaat in Europa und auf individuelle Prüfungen wurde verzichtet. Gerade vor dem Hintergrund des hohen Bearbeitungsstaus beim Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (BAMF) war dies eine notwendige Vorgehensweise. Nun aber sollen Dublin-Verfahren wieder durchgeführt und auf eine individuelle Prüfung umgestellt werden. Dass das BAMF an der aus dieser Vorgabe resultierenden Arbeit zu ersticken droht, scheint den verantwortlichen Innenminister wenig zu interessieren. Hinzu kommen weitere Verkomplizierungen der Arbeit des Bundesamtes durch andere Regelungen.
Dies sind nur einige Beispiele, die belegen, dass die vermeintliche Standhaftigkeit der Bundeskanzlerin nichts weiter als ein Märchen und heiße Luft ist. Haben wir Merkels zumindest verbale Standhaftigkeit bis vor einigen Wochen noch gelobt, müssen wir heute feststellen, dass sie inhaltlich weitgehend sinnfreien Diskussionen beispielsweise um Transitzonen oder Obergrenzen keinen Riegel vorschiebt, sie gar einfach laufen lässt und am Ende mit dem rechtspopulistischen Flügel in der Koalition Frieden schließt, der – wie oben aufgeführt – ein klares Bekenntnis vermissen lässt und zum Erstarken der Rechtspopulisten führt. Merkel muss nicht mehr einknicken. Wo keine Linie zu finden ist, es keine Richtung gibt, gibt es auch kein Einknicken.
Zu den sinnfreien Vorschlägen gehört momentan die Diskussion um die Schaffung von Fluchtalter-nativen für Geflüchtete aus Afghanistan, um Rückführungen dorthin durchzuführen. Das Auswärtige Amt führt im Hinblick auf die Sicherheitslage in Afghanistan indes auf: „Der Aufenthalt in weiten Teilen des Landes bleibt gefährlich.“ Während die Taliban wieder auf dem Vormarsch sind, breitet sich der Islamische Staat im Osten des Landes aus. In solch ein Land darf nicht abgeschoben werden.
Eine weitere Nebelkerze ist der Diskurs um Kontingente. Noch im Sommer wurde die rechtliche Basis für Resettlement-Programme gefestigt. Hiermit sind Kontingente, wie schon bei syrischen Flüchtlingen, möglich. Jede weitere Diskussion um diese Begrifflichkeit vermittelt bewusst das Gefühl, es gäbe Wege für Obergrenzen, die es rechtlich und praktisch aber nicht gibt. Auch diese Nebelkerze lehnen wir ab.
Dankbar können wir den Akteurinnen und Akteuren der Zivilgesellschaft sein, die an vielen Orten auf die Straße gehen, wenn Rechtsextreme und Rechtspopulisten die Stimmung zu vergiften versuchen und anpacken, wenn bei der Aufnahme von Geflüchteten Hilfe benötigt wird. Aber diese zivilgesellschaftlichen Akteurinnen und Akteure scheinen zunehmend erschöpft und enttäuscht von dem politischen Wirrwarr. Deswegen bringen Dankesbotschaften allein kaum etwas. Notwendig sind endlich mehr Sachlichkeit und Ruhe in die Flüchtlingsaufnahme und die Konzentration auf die Instrumente, die tatsächlich Verfahren beschleunigen, d. h. unbedingt erforderlich ist es, früh Perspektiven zu geben und die Solidarität bei der Aufnahme der geflüchteten voranzubringen. Alles andere sind nur Nebelkerzen, die den Rechten in die Hände spielen.
Zeigen wir Haltung, geben wir Orientierung und gewinnen die gesellschaftliche Mitte für unser weltoffenes Deutschland.
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Vier Jahre nach der Selbstenttarnung des NSU: viele offene Fragen und ein erlahmter Reformdiskurs
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Vier Jahre sind seit dem Bekanntwerden des größten Sicherheitsskandals in der Geschichte der BRD vergangen. Und das Kapitel NSU ist bei weitem noch nicht abgeschlossen. Mehrere NSU-Untersuchungsausschüsse in den Bundesländern arbeiten weiterhin an der Aufarbeitung des staatlichen Versagens und der NSU-Gerichtsprozess ist auch noch nicht abgeschlossen. Der Untersuchungssauschuss des Deutschen Bundestages hat am 23. August 2013 seine Ergebnisse vorgelegt und Forderungen, welche einen Minimalkonsens aller Parteien darstellen, aufgestellt. Die Empfehlungen des NSU-Untersuchungsausschusses erstreckten sich auf die Bereiche Polizei, Justiz, Verfassungsschutz sowie die staatliche Förderung von Demokratie und zivilgesellschaftlichem Engagement. Um zu beleuchten, welche Forderungen schon erfüllt oder in Angriff genommen wurden und welche nicht, lohnt eine Gegenüberstellung der einzelnen Punkte (wird zum Download bereitgestellt).
Weiterhin sind viele Fragen rund um das Staatsversagen ungeklärt und die Umsetzung der Empfehlungen des NSU-Ausschusses im Bundestag laufen schleppend voran. Währenddessen hat der Bundestag die Einsetzung eines weiteren Untersuchungsausschusses beschlossen.
Wir erwarten vom neuen Untersuchungsausschuss weitere Aufklärung bei zentralen Fragen, die die Rolle der staatlichen Sicherheitsorgane betreffen. Das Abrutschen in das Klein-Klein bei den Reformdiskussionen in den letzten Jahren und das Kompetenzgerangel zwischen Bund und Ländern sind vor dem Hintergrund der NSU-Mordserie und des Ausmaßes des Versagens der Polizei und Verfassungsschutzbehörden des Bundes und mehrerer Länder skandalös. Das enorme Ausmaß des Staatsversagens muss dazu führen, dass die föderalen Strukturen deutlich auf den Prüfstand gestellt werden. Hier muss der neue Untersuchungsausschuss ohne Scheu weitergehende Empfehlungen ausarbeiten.
Für uns stellt sich darüber hinaus weiterhin die Frage, ob die gesellschaftliche Debatte um Rassismus in den staatlichen Sicherheitsorganen zu genüge geführt wurde. Wir sind der festen Überzeugung, dass wir an dieser Stelle von den Erfahrungen im Ausland lernen sollten. Die in Großbritannien 1997 eingesetzte unabhängige Stephen-Lawrence-Untersuchungskommission, die den rassistischen Mord an Stephen Lawrence untersuchen und generelle Erkenntnisse hinsichtlich der Untersuchung und Verfolgung rassistisch motivierter Straftaten identifizieren sollte, kann ein Beispiel für die Aufarbeitung in Deutschland sein. Wir fordern einen Untersuchungsausschuss mit einer breiten Vertretung aus allen gesellschaftlichen Bereichen.
Bezogen auf die bisherigen Forderungen fordern wir die schnelle und gründliche Umsetzung aller vom Untersuchungsausschuss des Bundes, sowie der Ausschüsse in den einzelnen Ländern aufgestellten Forderungen und eine regelmäßige Evaluierung über den Stand der Umsetzung der abgeschlossenen und begonnenen Maßnahmen.
Vor allem die Umsetzung der Maßnahmen, welche der Erweiterung der Interkulturellen Kompetenz bei den Mitarbeitern der Sicherheitsorgane dienen sollen, müssen schneller und effektiver umgesetzt werden. Der Anteil von Menschen mit Migrationsgeschichte bei Polizei, Justiz und den Diensten muss auch durch die Ermöglichung von Quereinstiegen erhöht werden. Vor allem in den östlichen Bundesländern gibt es an diesen Stellen akuten Nachholbedarf. Der notwendige Mentalitätswechsel gerade in den Verfassungsschutz-Ämtern sollte u.a. durch ständige Statusberichte dokumentiert bzw. abgefragt werden. Der Blick der Öffentlichkeit ist gerade bei der Frage eines Mentalitätswandels dringend notwendig.
Die extrem hohen Zahlen von Übergriffen auf Geflüchtete, Aktivist_innen, Helfer_innen, Politiker_innen und Unterkünfte für Zufluchtsuchende zeigen, dass alle Maßnahmen noch ausbaufähig sind. Die niedrige Aufklärungsquote rechtsmotivierter Straftaten ist erschreckend. Die Sensibilisierung für das Thema Rechtsextremismus ist noch nicht bei jeder Polizeieinheit angekommen. Dies muss sich dringend ändern. Hier stehen wir für ein striktes Verbot von Racial Profiling.
Auch der Umgang mit Opfern rechter Gewalt und rechtsorientierter Straftaten ist noch nicht befriedigend. So fehlt es in den meisten Fällen an einer Beratung der Opfer über Möglichkeiten, sich Hilfe zu suchen. Die Betroffenen werden vom Staat noch zu oft mit ihrem Schicksal alleine gelassen.
Demokratieförderung ist für uns nicht ausschließliche Aufgabe des Ehrenamtes. Wichtig ist diesen Bereich in den Bildungsplänen der Länder ab Vorschulalter und bis zur Berufsbildung fest zu verankern und personell zu untersetzen. Aber auch das in Deutschland nicht wegzudenkende Engagement der vielen Ehrenamtlichen muss noch stärker gefördert werden. Dabei sind Hürden für die Beantragung von Fördergeldern, wie zum Beispiel das Bestehen als Verein, weiter abzubauen. Viele Initiativen oder Aktionsnetzwerke agieren nicht als Vereine, leisten aber eine enorm wichtige Aufgabe in den Bereichen Aufklärung, Prävention und dem aktiven Kampf gegen rechten Extremismus.
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